Interview mit Ken Follett zu seinem Roman „Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit“

KINGSBRIDGE - DER MORGEN EINER NEUEN ZEIT ist Ihr vierter Roman, der in der fiktiven Stadt KINGSBRIDGE spielt, und außerdem das Prequel zu Ihrem Welterfolg DIE SÄULEN DER ERDE. Was hat Sie dazu inspiriert, wieder KINGSBRIDGE zu wählen?

Offenbar gefällt KINGSBRIDGE meinen Leserinnen und Lesern, der Ort hat mittlerweile seine eigene Fangemeinde. Ich habe KINGSBRIDGE zum ersten Mal in DIE SÄULEN DER ERDE zum Ort der Handlung gemacht und bin dann in DIE TORE DER WELT und DAS FUNDAMENT DER EWIGKEIT wieder dorthin zurückgekehrt. Es besteht offensichtlich großes Interesse, die Entwicklung der Stadt über Jahrhunderte mitzuerleben. Und mir wiederum gefällt es, KINGSBRIDGES Geschichte zu entwerfen und aufzuschreiben. So wuchs in mir der Gedanke, wie es wohl früher dort ausgesehen haben mag, gab es eine Zeit, als KINGSBRIDGE keine wichtige, blühende Stadt war? Gab es eine Zeit, als es nur ein Dorf oder vielleicht ein Weiler war? Das faszinierte mich. Und ich überlegte, welcher Zeitraum zu der Geschichte passen könnte. Ich dachte an den Anfang des 11. Jahrhunderts, ungefähr an das Jahr 1000, als drei mächtige Gruppen um die Herrschaft in England kämpften: natürlich die Angelsachsen, die dort wohnten; die Wikinger, die seit 200 Jahren England wie eine Art „Supermarkt“ betrachteten, wo man nichts bezahlen musste, sondern nur plündern, rauben und Sklaven nehmen konnte. Außerdem noch die Normannen, die wahrscheinlich am zivilisiertesten in Europa waren, die die Kontrolle über England übernommen hatten, und die immer noch hier sind. Diese Kombination von der Frühzeit von KINGSBRIDGE und diesem gewaltigen Machtkampf schien mir ein großartiges Drama für meine Geschichte zu bieten.

Sie sind für Ihre detaillierte und präzise Recherche bekannt. Wie hat der Mangel an Informationen über das dunkle Zeitalter Ihr Schreiben beeinflusst?

Wenn man keine Antwort auf eine historische Frage hat, erlaubt die schriftstellerische Freiheit, sich eine ausdenken. Zum Beispiel weiß niemand, was für Unterwäsche die Angelsachsen trugen, wenn sie überhaupt welche anhatten. So habe ich mich entschieden, es mir auszudenken. Da es niemand weiß, wird es vermutlich niemand infrage stellen. Meine Fiktion ist höchst plausibel und könnte wohl stimmen, falls wir es eines Tages doch herausfinden. Es gibt ein paar wirklich interessante Belege aus dieser Periode. Manche finden sich im Wikingerschiffmuseum in Oslo, wo es viele Schiffe gibt, die tausend Jahre überdauert haben, teilweise sind sie rekonstruiert, aber meistens original erhalten. Und sie sind sehr beeindruckend, erschreckend und schön zugleich. In der Normandie gibt es den berühmten Teppich von Bayeux, eine 58-Meter lange Stickarbeit, die von der normannischen Invasion Englands erzählt, aber auch eine ganze Menge an Informationen über das Alltagsleben in dieser Zeit liefert. Es gibt also schon ein paar Quellen, die ich genutzt habe, um möglichst viel herauszufinden.

Die ausgewählte Epoche hat Ihnen also auf der einen Seite mehr Freiheit gegeben als bei Ihren anderen historischen Romanen. Auf der anderen Seite leben Ihre Romane sonst auch vom Zusammenspiel von Personen der Geschichte und fiktiven Charakteren. Stellte der Mangel an uns bekannten realen historischen Figuren aus dem 10. Jahrhundert eine besondere Herausforderung dar?

Die wahren historischen Persönlichkeiten sind in der Regel doch eher im Hintergrund meiner Geschichten. Im Fokus stehen in meinen Büchern immer ganz normale, fiktive Menschen, die davon beeinflusst sind, was von Königen, Prinzen, Königinnen, Päpsten und anderen Machthabern entschieden wird. Mit meinen Romanen möchte ich geschichtlichen Ereignisse die Gefühle und Ansichten des einfachen Volkes gegenüberstellen. Deswegen benötige ich in meiner Handlung nicht so sehr die historisch verbrieften Charaktere, sondern zeige, welche Auswirkungen ihre Taten auf einfache Männer und Frauen hatten.

Würden Sie also von einem gewissen Mangel an Fachliteratur sprechen? Orte, die Sie nicht besuchen, Bilder und Bücher, die Sie nicht benutzen konnten, um Ihre Geschichte zum Leben zu erwecken?

Es gibt schon ein paar Bücher, wie zum Beispiel das berühmte Manuskript „A Book of Kells“, das ich im Dubliner Trinity College studiert habe. „The Book of Riddles“ ist interessant, es ist kein biblisches oder religiöses Werk, dort kann man etwas vom Humor der Angelsachsen erfahren. Es existieren sehr wenige Bilder und Zeichnungen, meistens in Bilderhandschriften. Angelsachsen haben zudem sehr wenig aus Stein gebaut. Ich habe wahrscheinlich alle angelsächsischen Gebäude in England besucht, aber es gibt eben nicht viele. Es gibt Fragmente solcher Mauerwerke, die in Kirchen übriggeblieben waren, die dann später erweitert und überbaut wurden. Ich habe mehrere davon besucht, und das war sehr nützlich. In der Normandie gibt es viel mehr Gebäude dieser Zeit, denn zu diesem Zeitpunkt hatten Normannen angefangen Burgen zu bauen, die Angelsachsen hingegen haben nie Burgen gebaut. So kann man sehen, wie unterschiedlich fortgeschritten die Zivilisation in den verschiedenen Teilen Europas war.

Was haben Sie über den Teppich von Bayeux erfahren?

Er ist eine wunderbare Quelle für jeden, der diesen Zeitraum recherchiert, und war mir bei meiner Recherche äußerst hilfreich. Er wirkt sehr realistisch und zugleich sehr detailliert. Zum Beispiel für die Reiterei, wenn man etwas über Zaumzeug, Trensen, Zügel oder Bügel erfahren möchte, alles dazu wird auf dem Teppich dargestellt. Es gibt einen Menge Information zum Thema Speisen, zum Beispiel sieht man Menschen beim Essen und Trinken, ihre Diener, die das ganze Mahl vorbereiten und servieren. Viel gibt es zum Thema Schlachten; Informationen über Schiffe, denn es gab damals viel Verkehr auf dem heutigen Ärmelkanal. Der Teppich von Bayeux ist eine historische Quelle mit unzähligen Informationen. Ich habe das Original in der Normandie besucht, und es gibt noch eine unglaublich präzise Kopie in einem Museum in England, in der Stadt Reading.

Wie stand es um das Handwerk? In Ihrem Roman spielt der Bootsbau eine große Rolle?

Über den Bootsbau im Mittelalter erfährt man eine ganze Menge, wenn man die Überreste der Bootes studiert. In dieser Hinsicht ist das Wikingerschiffmuseum in Oslo eine wunderbare Quelle. Die Schiffe dort sind teilweise restauriert, aber in großem Maße original erhalten. Es gibt auch Information dazu auf dem Teppich von Bayeux. Herzog Wilhelm aus der Normandie musste, bevor er König Wilhelm I. von England wurde, den Bau einer Schiffsflotte in Auftrag geben, um seine Soldaten zur Invasion über den Kanal nach England zu bringen. Auf dem Teppich ist all das zu sehen. Man sieht, wie Bäume gefällt werden, wie Planken mit einer Drechsel geglättet und zu einer Schiffsform zusammengestellt werden. Oder wie das Schiff ablegt und über den Ärmelkanal fährt, vollgepackt mit Soldaten, Pferden und Waffen. So erfährt man eine ganze Menge. Aber alles bis ins kleinste Detail wissen wir nicht, denn nicht alle Informationen sind überliefert und ich musste einiges nach meinem Kenntnisstand ergänzen. Aber im Großem und Ganzen sind weite Teile der Geschichte des Bootsbaus aus dieser Zeit bekannt.

Edgar, der Bootsbauer, und Tom, der Steinmetz, haben viele Gemeinsamkeiten. Beide werden zu Helden von KINGSBRIDGE. Was sind das für Eigenschaften? Und was hat Sie zu diesen Eigenschaften inspiriert?

Edgar ähnelt Tom, indem er einen Instinkt für Formen und Strukturen besitzt. Ich würde das mit einem Instinkt für Musik vergleichen. Einige Menschen haben dieses Naturtalent, schon als kleine Kinder können sie einen Ton halten, sie wissen, ob ein Ton gut oder nur ein Lärm ist. Manche Menschen haben ganz einfach diesen musikalischen Instinkt, und manche einen für Formen und können mühelos zeichnen. Leider habe ich keine dieser Eigenschaften, schon gar nicht die handwerkliche Begabung wie Tom und Edgar, vermutlich fasziniert sie mich deshalb so sehr. Schon beim Schreiben von „Die Säulen der Erde“ war ich völlig in den Bann gezogen, wie diese Steinmetze mit primitiven Werkzeugen arbeiteten, sie hatten ja nur Hammer und Meißel zur Verfügung. Und der Meißel bestand nicht ganz aus Stahl, eine Stahlspitze wurde als ein großes Glück angesehen, Stahl war viel zu teuer. Ich war so begeistert, wie diese Menschen mit ihren aus heutiger Sicht unzureichenden Instrumenten solche schönen Gebäude in Europa errichtet haben. Das war der Beginn meiner Faszination für das Gewerbe der Baukunst, das Interesse für Männer wie Frauen, die solide Gebäude und schwimmende Schiffe gebaut haben. Und meine Faszination habe ich gerne mit meinen Leserinnen und Lesern geteilt.

In Ihren Romanen spielen starke Frauen immer eine große Rolle, KINGSBRIDGE - DER MORGEN EINER NEUEN ZEIT bildet da keine Ausnahme. Woher kam Ihre Inspiration für Ragna?

Ragna ist eine normannische Prinzessin, und, wie viele Frauen in meinen Romanen, ist sie schlau, schön, sexy und auch temperamentvoll. Um diese Frage zu beantworten, verweise ich oft darauf, dass ich selbst ausschließlich von starken Frauen umgeben bin - ich kenne kaum andere -, und dass das für mich ein großes Glück ist! Natürlich stellt man mir oft die Frage, ob starke Frauen im historischen Kontext meiner Bücher überhaupt realistisch sind, ob das der Rolle der Frau in der jeweiligen Epoche entsprach. Tatsächlich brachte aber jede Epoche Frauen hervor, die den Konventionen trotzten und die für Frauen festgelegten Regeln nicht befolgten, denen es egal war, was man für eine „passende“ weibliche Aktivität hielt oder nicht. Sie geraten in Schwierigkeiten, sie rebellieren. Und diese Frauen sind für mich als Schriftsteller reizvoll. Ragna in meinem neuen Roman ist so eine Frau. Sie besitzt einen starken Willen, sie heiratet gegen den Wunsch ihrer Eltern einen angelsächsischen Fürsten, und dann muss sie mit allen Konsequenzen damit leben – und die Schwierigkeiten überwinden.

Ragna hat ein ausgeprägtes Talent für die Rechtssprechung, die sie stellvertretend für ihren Vater, ihren Ehemann und später auch für sich ausübt. Wie haben Sie das Thema der beginnenden Rechtssprechung im 10. Jahrhundert recherchiert, und welche Rolle kommt dabei Frauen zu?

Aristokratische Frauen konnten eine Rolle in Gesetzgebung und Regierung spielen, auch Äbtissinnen und ältere Nonnen konnten eine wichtige Rolle einnehmen, normale Frauen wahrscheinlich nicht. Aber dennoch konnte eine außerordentliche Frau immer auch über ihren Status hinauskommen, ein solches Beispiel und ein reales Vorbild ist die Normannin Emma, die mit 18 Jahren den englischen König heiratete und mit ihm nach England zog und Jahrzehnte im Zentrum der Macht blieb. Nach Æthelreds Tod heiratete sie König Knut, einer ihrer Söhne war König Eduard der Bekenner, der die ursprüngliche Kirche von Westminster Abbey gebaut hat. Emma beweist, dass auch Frauen wichtige und einflussreiche Rollen einnehmen konnten. Das frühmittelalterliche Rechtssystem in England war sehr kompliziert. Es gab viele Gesetze, und die effizienteste Ebene des Justizsystems war die lokale vor Ort. Das Land wurde in Hunderten aufgeteilt, ein Hundert war eine Gruppe von Gemeinden. Sie trafen sich und hielten Gericht in bestimmten Abständen. So wurde Recht meistens vom Volk gesprochen. Der Vorsitzender sollte möglichst eine einflussreiche Person sein, aber rein theoretisch war das ein Volksgerichtshof. Das gilt aber nicht auf einer höheren Ebene. Dort wurde das Justizsystem vom Ratsherren dominiert, dem sogenannten Alderman, eine Art Stammesfürst. Die Macht des Königs war sehr beschränkt, allerdings ohne Absicht. Er machte Gesetze, fällte Urteile, aber manche Machthaber ignorierten den König schlichtweg. Im frühen Mittelalter gab es einen Rechtsfall, der wohl am besten dokumentiert ist. Es ist der Fall von Wulfbald. Er widersetzte sich dem König, Jahr für Jahr, und hat bis zum Ende seines Lebens nie getan, was ihm vom König befohlen wurde. Nach seinem Tod machte seine Frau genauso weiter. Offensichtlich gab es also viele Gesetze, aber es war schwierig, sie auf einer höheren Ebene durchzusetzen.

Trotz der Entwicklung rechtlicher Grundsätze war das 10. Jahrhundert voller Gewalt, waren Mord und Vergewaltigung keine Seltenheit.

Einer der überraschenden Momente in meiner Recherche hat damit zu tun, in welchem Ausmaß man von einer Sklavengesellschaft sprechen kann. Die beste Schätzung findet man im „Domesday Book“, im Buch des Jüngsten Tags, das besagt, dass 10% der Bevölkerung Englands versklavt waren. Das war real, damit waren nicht einfach ein paar Kriegsgefangene gemeint, das war offensichtlich Teil des wirtschaftlichen Systems. Sklaverei bedeutet, dass man eine Person besitzt und alles mit dieser Person machen kann. Es gab ein Gesetz, in dem stand, dass es unrichtig sei, einen Sklaven im Zorn zu töten. Das war das einzige Gesetz zum Schutz von Sklaven, auf das ich gestoßen bin. Und die Bestrafung war lächerlich, man wurde durch „Fasten“ bestraft. Deswegen konnte man seine Sklaven wirklich brutal behandeln, da bin ich mir sicher. Ich zeige in meinem Roman diese Brutalität und übertreibe dabei nicht, aber diese Zustände müssen ja angesprochen werden. In allen Sklavengesellschaften gab es vermutlich Menschen, die ihre Sklaven anständig behandelten, aber es gab auch das Gegenteil. Es gibt natürlich auch Kampfszenen in meinem Roman, denn man kann nicht von dieser Periode schreiben, ohne diese zu schildern. Wenn man eine Kampfszene beschreibt, soll man sie wahrhaft beschreiben - und solche Kämpfe waren grauenvoll. Die Zahl der Getöteten lässt sich gar nicht mit den Zahlen in der modernen Welt vergleichen, denn heute werden Feuerwaffen benutzt. Es ist gar nicht einfach, jemanden mit einem Speer zu töten, man muss sehr stark sein, um ihn aufzuspießen. Aber alle diese Einzelheiten schaffen ein möglichst präzises Bild dieser historischen Periode.

 

September 2020